Die folgende Rezension wurde von Albrecht Franke verfasst und ist in „Altmark-Blätter“ am 29. April 2023 erschienen.
Der Mond scheint auf die Altmark und die Welt. Bei Claudia Kiefer, die aus Stendal stammt, wohl eher auf die Welt, in der sie jetzt zu Hause ist. Allerdings merkt sie in dem Gedicht „#Verortung“ an: „So ist auch mir die Ferne / Heimat geworden / im Gehen / im Fahren / im Kreisen / Im Vorüberziehen“.
Jedenfalls leuchtet Luna häufig in ihren Gedichten, die unter dem schönen und zum Erdtrabanten passenden Titel Gezeiten erschienen sind, und zwar im altmärkischen Prosodia-Verlag.
Weltläufigkeit sollen wohl auch die vielen Hashtags vermitteln. Diese in sozialen Netzwerken unerlässliche Kombination aus Raute und Wortgebilde mag bei einigen der Gedichte im Band originell sein, gar verstärkend wirken, bei anderen wäre ihr Wegfall zu verschmerzen. Dass Gedichte Botschaften sind, versteht sich. Auch, dass lyrische „Benachrichtigungen“ schnell verhallen können in einer Welt, der eine Spiegelung im Gedicht wohl nur noch selten willkommen und bedeutsam ist. Gerade darum ist es wichtig, dass es geschieht, dass eine junge Autorin Mut zu dieser Aufgabe fasst und dass ein Verlag daraus ein Buch macht.
Das Buch gliedert sich in ein „Intro“ und die Kapitel „Aufbruch“, „Sinnestäuschungen“, „Senkungen“. „Hebungen“, „Gravitation“ und „Erdung“. Das „Intro“ entwickelt eine Art poetischen Programms, nicht ganz überzeugend in seiner Konklusion, aber dennoch eindrücklich in der Feststellung, dass uns unser Leben in „Übergangszonen“ führt, in „Bildunterschriften“, dass wir unseren Text „improvisieren“. Dies scheint mir die Lebenserfahrung zu belegen, die für die Verfertigung guter Gedichte unerlässlich ist. Und die gibt es im Buch. Besonders gut sind jene, in denen Lakonie die Feder führt, wo auch einmal Ironie (das geschieht aber nur selten) funkelt, etwa in „#Existenz / Meine wurde bestätigt, / noch einmal. / Zum Glück! / Mit Stempeln und Briefen. / Im Amt.“ Ein noch schöneres Beispiel, erfrischende Poesie, bietet „#Le soleil / Ich würde gerne zuhören, / aber es stört mich die Fliege im Haar, / der Hund scheißt mal wieder /direkt vor die Bar.“ Dieser Text wird mit einem Bild tief fliegender Schwalben und des Sommers, der ewig dauert, rätselhaft und damit äußerst anregend beendet.
Es gibt aber auch Texte, und darauf richtet die Autorin ihr Hauptaugenmerk, die das Leben und das Auf und Ab unseres Daseins analysieren. Gedichte, deren Befunde dem Leser ein Spiegelbild zeigen und ihn zu einem tieferen Begreifen seines Selbst führen können: „Irgendwo kauft sich eine Frau ein Kleid, / eine zweite räumt den Tisch ab. / Eine weint, / eine lacht, / beide / träumen vom Aufbruch.“ So heißt es im schönen Gedicht „#Von der Gleichzeitigkeit der Dinge“. Es spricht für die die Kunst der Autorin, dass sie Sprachgebilde schafft, die nicht einfach vorüberwehen, sondern am Leser haften, weiterklingen in ihm. Dass dies nicht immer gelingt, dass mitunter das Nebensächliche in einen zu hohen Rang gehoben wird, ist jedoch ebenfalls wahr. Etwa wenn man liest: „in der Nähe von Fliederbüschen erinnere ich mich, / wie schön es als Kind war.“ Unschwer ist hier festzustellen, wie eine nicht ganz überzeugende poetische Darstellung auch der dichterischen Sprache schadet. Dazu in diesem Zusammenhang: Es wird am Ende des Buches auch jemandem für ein Lektorat gedankt. Das ist gewiss freundlich, doch sollte dieser Dank Anlass sein, noch einmal einen Korrekturrundgang zu halten. Denn ein paar sprachliche Unstimmigkeiten fallen leider auf.
Es bleibt zu wünschen, dass der Autorin Leben weiterhin „in Wellen“, in den „Gezeiten“ verlaufe, wie sie es in einem ihrer Gedichte beschreibt, und dass die Wellen weiterhin in dichterische Produktion auslaufen und Zustände poetisch umgestalten können. Auch, dass es weiterhin Verlage wie Prosodia geben möge, damit uns Stimmen wie die Claudia Kiefers hörbar bleiben.
Sie sind wichtig, weil sie uns zum Innehalten nötigen, wenn wir sie lesend vernehmen. Es gelingt ihr bei aller Sachlichkeit und Modernität oft ein an die Romantik erinnernder Grundton, nämlich durch den Wunsch, die Welt zu „poetisieren“. Da die Welt das dringend nötig hat, kann man Claudia Kiefer nur zum Weiterschreiben ermuntern. Ihr Buch kann man sich am einfachsten beschaffen unter https://prosodia.shop/p/gezeiten/.