Matthias Binner schreibt:
Nachdem die eifrig wühlenden „Schatzgräber“ in Bürgers gleichnamiger Ballade den vom Vater versprochenen Schatz im Weinstock nicht hatten finden können, bemerkten sie, dass durch ihr Umgraben nun „jede Rebe dreifach trug“ und sich der Weinberg in genau jenen Schatz verwandelt hatte, nachdem sie vergeblich zu suchen geglaubt hatten.
Vier Jahre lang haben Melvin, Peter und Judith alias Link not found! für ihr zweites Album Synapsensilvester in Hirnwindungen, Gitarrenbünden und Audio-Programmen gegraben, gewühlt, geharkt und gesiebt – was ist das für ein blühender Garten geworden! Wie summt hier der Frosch, wie quakt hier die Biene!
Die Schnäpse tragen ja fast allein die Last eines vermeintlich abgestorbenen Astes der Waldeck-Ära: Sie sind Blödelbarden in bester, Ingo Insterburg’scher Tradition. Und damit dringend benötigt! An Wader-, Degenhardt- oder Mey-Adepten mangelt es ja der gegenwärtigen Liedermacher-Landschaft schließlich nicht, und gewiss auch nicht an dummen Witzen und clever-cleveren Pointen – wohl aber an einem Humor, der sich aus Assoziationen und Geistesblitzen speist und dem mit Liebe und Fleiß die richtige, die passende Form gegeben wird.
Beispiel: Zur sprichwörtlichen „Luft nach oben“ könnten schon manchen diese oder jene Verballhornung eingefallen sein – ein perfektes, berührendes Lied daraus gemacht hat bisher nur Melvin Haack. „Nee, nee, lebend kriegt Ihr mich nicht!“, macho-t er den Depressions-Dämonen entgegen, „ich weiß, Ihr zählt die Stunden / Nee, nee, lebend kriegt Ihr mich nicht / da ist noch Luft nach unten“. Und setzt hinzu: „Fallschirmspringen ist ’nen Leistungssport / weil der Leichtsinn mit der Schwerkraft ringt / ganz oben, fast unten, ich war schon dort / Und ich weiß, wie das Dazwischen klingt“. Das ist nicht nur (beinahe) sauber gereimt, das ist sauber gedacht, das ist rein empfunden. Dichtung!
Auch die Ménage-à-trois wurde schon oftmals besungen – raunend-pathetisch in David Crosbys „Triad“, peinlich-offenherzig in Stereo Totals „Liebe zu dritt“, hochnotpeinlich-klemmig in Kraftklubs, äh: „Liebe zu dritt“. Aber nie wurde diese muffige Männer-Fantasie so liebevoll filetiert wie von Peter Wolter: „Ey Sahra, wie steh ich denn da da? / Ich hab das doch schon überall rumerzählt, findest du echt, das geht klar? / Denn du hast mir ’nen Dreier versprochen, unter deiner klugen Regie / Du wolltest doch auch noch ’ne Freundin stellen, krieg ich denn wenigstens die?“ Und aus Spaß an der Freude reimt dann noch „Joachim“ auf „Sach ihm“ auf „Jo, Achim“. Und falls irgendjemand den Schuss nicht gehört haben sollte, zündet Melvin in einem Hidden-Track-Bootleg die Lunte noch ein zweites Mal – mehr Info würde den Spoiler-Alarm auslösen.
Die gleiche Detail-Verliebtheit, die gleiche Lust am Witz, die aus den Texten blitzt, versprüht auch die Musik. Im Booklet behauptet Melvin unnötig bescheiden, eine Melodie beim russischen Nationalhymnen-Komponisten A. W. Alexandrow entliehen zu haben, der Opener erinnert an Don MacLeans „American Pie“ – weil die Melodien so unverschämt eingängig und makellos sind, dass man unwillkürlich an Volkslieder und Welthits denken muss. Nicht schlimm!
Und wiederum: Singen und Gitarre spielen machen viele – wenige können es so versiert und gekonnt wie die Schnäpse. Den mehrstimmigen Vocals und die von Alleskönnerin Judith Retzlik (Geige, Trompete und Haste-nicht-gesehen) veredelten Arrangements hört man viele Arbeitsstunden im Proberaum, auf der Konzertbühne und im Tonstudio an; die live tendenziell übergriffige Rhythmus-Section (Simon Vock und Steve Zufall) bekommt und nutzt hier genau den Raum, der ihr zusteht.
Und all das verzieren Produzent Peter Wolter und Mixer Nico Walser mit winzigen, hörspielartigen, liebevoll gesetzten Gastbeiträgen (z.B. von Liedermacher Götz Widmann, Synchronsprecher Roland Hemmo, Comedian Dieter Wischmeyer) – hier kriegt jeder seine 1,5 Sekunden Ewigkeit (statt 15 Minuten schnöden Ruhms).
Und: Ja, auch ich bin kurz am Klimperklavier zu hören.
Tolle Songs, Super-Band, Referenz-Produktion, wunderhübsches Artwork (Grafik Eva Kristin Stein, Zeichnungen Marlene Kiepke, Fotos Anja Rattchen) – gibt’s auch was zu mosern? Jein – die schwammerige Titelgebung („Auf den Versen“ statt „Luft nach unten“ , „Zickiger Optimismus“ statt „Immer immer immer wieder“, „Sarah und Peter“ statt „Du hast mir ’nen Dreier versprochen“) dürfte die potentielle Käuferzahl halbieren. Was ja wiederum schön für jeden ist, der den Geheimtipp erstanden hat!
Also: „Synapsensilvester“ ist euphorisch, warmherzig, liebevoll, verblüffend, anrührend und wichtig. Eine Wundertüte der Inspiration! CD bestellen, einen Jägermeister im Heidsieck versenken und am Player den Repeat-Knopf drücken!
Reinhören lohnt:
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